Vortrag bei der "Zukunftswerkstatt: Bildungs- und Jugendförderung für soziale Entwicklung" vom 24. bis 27. Juni 2003 im Gtz-Haus Berlin

Block "Visionen und interdisziplinäre Blickrichtungen: Impulse aus externer Sicht, 26. Juni

Sigrid Peuker mail@SigridPeuker.de

Visionen zu Bildung in der Wissensgesellschaft: Der Dialog als Methode der Wissenskommunikation zwischen den Generationen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken, dass Sie mir die Gelegenheit geben, über meine Visionen, wie Bildung in der Wissensgesellschaft in bestimmten Bereichen auch stattfinden kann, vorzutragen. Dafür möchte ich Ihnen von meinen Erfahrungen, wie Jung und Alt voneinander und miteinander lernen können, berichten.

Seit Herbst letzten Jahres treffen sich regelmäßig einmal pro Monat Senior Experten des Senior Experten Service und Studierende zu einem Wissens- und Erfahrungsaustausch. Die Idee dazu entstand in einem Seminar zur interkulturellen Wissenskommunikation, in dem wir uns damit befasst haben, wie Wissen über kulturelle Grenzen hinweg weitergegeben werden kann. In diesem Seminar haben wir untersucht, welche Barrieren und Hemmnisse den Austausch von Wissen behindern oder ihn bei sehr unterschiedlichen Hintergründen sogar unmöglich machen. Wir haben nach Wegen gesucht, wie die Kommunikation von Wissen und vor allem die Bereitschaft dazu, es weiter zu geben, verbessert werden kann. Eine Möglichkeit ist der Dialog nach David Bohm, eine Methode der direkten Kommunikation in Gruppen. Diese Form des Gesprächs weist einige Besonderheiten auf, die auf den ersten Blick nicht zu erkennen sind.

Wenn Sie uns sehen würden, wie wir in der Runde um einen großen Tisch sitzen, würden Sie das Ganze vermutlich für eine recht unkomplizierte Angelegenheit halten. Unsere Gruppe besteht aus acht Senior Experten, acht Studierenden und vier Menschen im Alter dazwischen, um eine Polarisierung der beiden Gruppen zu vermeiden. Gefunden haben wir uns, weil wir bei Gesprächen zwischen einzelnen Senior Experten und Studierenden festgestellt haben, dass wir uns einerseits viel mitzuteilen haben, und gleichzeitig das Bedürfnis beider Gruppen nach Beziehung mit der anderen Generation sehr groß ist. Wir wollten es gerne einer größeren Anzahl von Teinehmern ermöglichen, miteinander in tiefe Gespräche zu kommen. Deshalb haben wir die Dialogmethode, die einige der Studierenden schon aus meinen Seminaren kannten, als uns ideal erscheinende Form des hierarchiefreien Gesprächs gewählt. Denn keine der beiden Generationen wollte die andere belehren, keine wollte belehrt werden. Stattdessen war der dahinterstehende Gedanke der, dass diese Dialoge dazu beitragen sollten, voneinander und miteinander zu lernen. Das konkrete Thema der Dialoge sollte interkulturelle Kommunikation und Kompetenz sein. Das Konzept haben wir beim Regionaltreffen des SES Berlin-Brandenburg und in meinem Seminar zur Wissenskommunikation vorgestellt und sind damit auf großes Interesse gestoßen. Die Teilnahme ist freiwillig, es gibt nicht mal einen Schein dafür, wir haben uns jedoch zu Beginn auf einen Zeitraum von einem Jahr geeinigt und darauf, regelmäßig dabei zu sein. Beim ersten Treffen wurden die Dialogregeln und das Wesen des Dialogprozesses sehr ausführlich erklärt.  

Denn um das Wesen des Dialogs zu begreifen, muss man sich klar sein, dass mit diesem Begriff nicht einfach ein Zwiegespräch gemeint ist oder eine normale Diskussion. Der Begriff Dialog kommt von griechisch "dia" (durch) und "logos" (das Wort, der Sinn). Dialog ist das ungehinderte Durchfließen von Sinn, von Bedeutung in einer Gruppe, wodurch neue Erkenntnisse entstehen können. Stellen Sie sich das ein bisschen wie auf dem Marktplatz im antiken Griechenland vor, wo Sokrates und Andere sich trafen, um zu philosophieren. Der Dialog unterscheidet sich von Diskussion dadurch, dass es nicht darum geht, Argumente auszutauschen, Positionen zu verteidigen oder zu Entscheidungen zu kommen. Stattdessen ist Dialog ein offenes Aufeinanderzugehen. Es geht darum, gemeinsam mit anderen Menschen Ideen zu entwickeln, auf die man alleine nie gekommen wäre. Oder ein Verständnis für komplexe Fragen zu gewinnen, das man alleine nie gewonnen hätte. Es geht darum, den Anderen Wissen, Erfahrungen, Annahmen und Perspektiven mitzuteilen, gemeinsam zu reflektieren und dadurch mehr und andere Sichtweisen zu entwickeln.

Information und Wissen sollen frei fließen. Die unserem Denken zugrunde liegenden mentalen Modelle sollen erkundet und bewusst gemacht werden. Wir wollen erfahren, welche Prozesse, welche kulturellen Sicherheiten und Strukturen unserem Denken, Fühlen und Handeln zugrunde liegen. Wir befassen uns mit unserem eigenen Wissen indem wir nicht nur die Inhalte reflektieren, sondern auch, wie dieses Wissen selbst zustande kommt, wie sich unsere Meinungen oft automatisch bilden, ohne dass wir wissen, wie es dazu kommt.

Wenn wir sagen, dass Information und Wissen frei fließen sollen, müssen wir uns klar machen, dass sie unterschiedliche Dinge sind. Oft wird von Wissen gesprochen, wenn Information gemeint ist. Wissen ist immer an Menschen gebunden und nie frei von den Erfahrungsmustern, die der Mensch bereits hat. "Wissen ist ohne Gedächtnis nicht möglich, aber nicht alles, was aus einem Gedächtnis hervorgeholt wird, ist Wissen. Wissen entsteht durch den Einbau von Informationen in Erfahrungskontexte". (Willke 2001, S. 11)


Das erklärt, warum Wissen nie vollständig weitergegeben werden kann, denn es kann nie der gesamte Kontext an Erfahrungen vermittelt werden. Vieles von dem Wissen, das wir haben, ist uns außerdem nicht bewusst. Wir wissen nicht, dass wir es haben, oder wir tun etwas, ohne zu wissen, wie wir es tun. Das In-Worte-fassen von Wissen und Erfahrung ist manchmal sehr mühevoll und schwierig und nie 1:1 zu vollziehen. Wenn wir Wissen kommunizieren, kann beim Andern etwas ganz Anderes ankommen. Er gleicht das, was er oder sie gehört hat, mit dem ab, was bereits vorhanden ist und integriert es in das eigene Wissen. Unsere persönlichen Hintergründe, unsere Geschichte, unsere Praxis und unser Lernen bestimmen also unser Wissen und unseren Umgang damit. Womit nahe liegt, dass Menschen, die ähnliche Sozialisationen erfahren haben, auch vergleichbare Hintergründe entwickeln. So impliziert z.B. der Begriff "Generation", dass Menschen, die in einer bestimmten Zeitspanne auf die Welt gekommen sind, durch die gemeinsame Epochenerfahrung geprägt sind. Dies ist sicher richtig, in unseren Dialogen ist aber eine der eigentlichen Erfahrungen die, dass wir uns nach einer gewissen Zeit als Individuen wahrnehmen, dass Alter oder Rolle in den Hintergrund rücken und wir uns auf das konzentrieren, was wir sagen wollen.

Dazu tragen Dialogregeln bei, die eher Haltungen sind, die dabei helfen, so zuzuhören und zu sprechen, dass allein die Atmosphäre, die dadurch entsteht, für Lernbereitschaft und Neugier sorgt. Eine wichtige Haltung ist die des Lernens, nicht die des Wissens. Wer mit der Absicht, etwas lernen zu wollen, in ein Gespräch geht, ist offen für Neues. Er wird nicht versuchen, Gegenargumente zu finden zu den Standpunkten der Anderen, oder versuchen, sie von seiner Meinung zu überzeugen. Durch das Nachvollziehen der Gedanken der Anderen, durch das "ein Stück des Wegs gemeinsam gehen", wird es möglich, Lücken im eigenen Wissen, in der eigenen Argumentation zu finden. Wir sind offen dafür, unsere Denk- und Verhaltensmuster in Frage zu stellen. Diese Haltung hat auch damit zu tun, sich bewusst zu sein, dass wir uns unseres Wissens nie sicher sein können und es immer wieder an die sich verändernde Umwelt anpassen müssen. Damit öffnen wir uns auch dafür, Veränderungen wahrzunehmen und uns mit ihnen zu verändern. Respekt für den Gesprächspartner zu zeigen sollte in jeder Kommunikationssituation selbstverständlich sein. Er beruht auch darauf, die Standpunkte der Anderen als legitim wahr zu nehmen. Wenn jemand eine Erfahrung gemacht hat, dann ist sie gültig. Respekt für den Standpunkt Anderer hilft uns auch, seine Meinung besser nachvollziehen zu können und so andere Seiten derselben Sache zu sehen. Offenes und echtes Zuhören gehört zu den lernfördernden Haltungen, denn nur wenn ich wirklich versuche nachzuvollziehen was die anderen sagen, und nicht nur in meinem Sinn interpretiere, kann ich etwas wirklich Neues erkennen. Wir stellen das, was wir sagen wollen, nicht nur als unsere Meinung dar, sondern erklären auch, wie wir dazu kommen. Damit legen wir die hinter unseren Meinungen liegenden generelleren Annahmen und Bewertungen offen. Dadurch geben wir den anderen Dialogteilnehmern die Möglichkeit, uns Fragen zu stellen die einen Erkenntnisprozess ermöglichen, bei dem man tief gehen kann. Wir fragen mit wirklichem Interesse, nicht um dem Anderen seine Unkenntnis oder Fehler nach zu weisen. Und wir stellen offene Fragen.

Diese Haltungen scheinen auf den ersten Blick leicht nachvollziehbar, haben es jedoch, wenn man sie im Gespräch umsetzt, in sich. Deshalb gibt es einen Dialogbegleiter oder, korrekter, eine Dialogbegleiterin, deren Aufgabe es ist, auf die Einhaltung des Dialogs zu achten. Also wieder an das Wesen des Dialogs zu erinnern, wenn er zu einer Diskussion werden sollte und wir wieder in alte Kommunikationsformen zurückfallen. Es gibt keine festgelegte Tagesordnung. Das Thema wird entweder zu Beginn festgesetzt, der Dialog ist dann themenzentriert. Es kann aber auch offen bleiben und entwickelt sich von selbst aus der Gruppe heraus, wir nennen diesen Dialog den generativen Dialog. In unseren Dialogen haben wir inzwischen selten festgelegte Themen, meist ergeben sie sich bereits aus den ersten Redebeiträgen.

Wie bereits erwähnt, ist Wissen etwas zutiefst Persönliches. Das liegt auch daran, dass seine Aneignung im Idealfall zwar mit Freude und Enthusiasmus, oft aber auch mit Zeit, Mühe und hohen Kosten, aber auch mit schlechten Erfahrungen oder Niederlagen verbunden ist. Wissen stellt außerdem einen Vorteil gegenüber Anderen dar. "Wissen ist Macht" heißt das Sprichwort, das besonders in hierarchischen Strukturen befolgt wird. Dahinter steckt die Angst, entbehrlich zu werden, nachdem das eigene Wissen erst einmal preisgegeben ist. Das ist übrigens mit einer der Gründe für das Scheitern vieler Wissensmanagementsysteme. Sobald Wissen in Form von Dokumenten, Berichten, Informationen in Datenbanken oder Ähnlichem gespeichert, vervielfältigt und breit zugänglich gemacht wird, verliert der Urheber die Kontrolle darüber. Aus Angst, überflüssig zu werden, wird oft "Schein-Wissen" zur Verfügung gestellt, aber nicht das wirklich Relevante. Ich vermute, Sie ärgern sich auch über eine Informationsflut in Form von eMails, Artikeln, Büchern etc., denen Sie keine wirklich neuen Gedanken oder Ideen mehr entnehmen können, und die allein auf Relevanz hin zu beurteilen viel Zeit kostet. Die wirklich wichtigen Dinge zu finden ist übrigens eine zweite Schwierigkeit beim Einsatz von Wissensmangement.

Informationen sind außerdem nur ein Mosaikstein in Wissensprozessen. Neues kann nur entstehen, wenn Wissen frei fließt, wenn es eine Wissenskultur gibt, die den Namen Kultur, "Pflege", auch verdient. Diese Wissenskultur braucht Räume, in denen sie sich entfalten kann, in denen die Beteiligten sich sicher fühlen können. Der Dialog stellt einen Raum für die Weitergabe von Wissen her, weil er auf Gegenseitigkeit gründet. Denn die Währung für Wissen ist Wissen.

In unseren Generationendialogen wollen wir das Wissen und die sehr unterschiedlichen Erfahrungen, die die Senior Experten und die Studierenden haben, für die jeweils Anderen zugänglich machen. Wir wollen, dass beide Generationen von den speziellen Kompetenzen und Wissensformen der anderen profitieren. Gleichzeitig möchten wir damit neue Wege erproben, mit denen der Anforderung der Wissensgesellschaft entsprochen werden kann, Wissen ein Leben lang immer wieder zu erwerben, zu aktualisieren, es weiterzugeben und anzuwenden. Lebenslanges bzw. lebensbegleitendes Lernen kann nicht nur auf dem klassischen Lehrer-Schüler-Modell beruhen, sondern muss neu definiert werden und solche Formen einschließen, in denen jeder zugleich lehrt und lernt. Das selbstbestimmte, selbststrukturierte und selbstmotivierte Lernen im Austausch mit Anderen erfordert genauso neue Kompetenzen wie der Einsatz der Neuen Medien. Sie verlangen ja auch nicht nur Computerkenntnisse, sondern neue Strategien und Verhaltensweisen in virtuellen Räumen. Auch im Einsatz von IuK-Technologien muss Kommunikation neu gelernt werden, da sie sich von der direkten Kommunikation unterscheidet.

Ein Thema, das in unseren Generationendialogen übrigens immer wieder auftaucht, ist das Verhältnis der Generationen. Hier treten durch den Dialog die Stereotypen, Vorurteile und Erwartungen viel deutlicher in Erscheinung als in anderen Gesprächssituationen, weil alle ausreden können und alle offen und aktiv zuhören. Es sind jedoch nicht solche Generationenkonflikte, wie sie in den Medien mit Schlagwörtern wie "die Alten plündern die Jungen aus" oder "wir haben das Land schließlich aufgebaut" beschrieben werden. In fast allen Vorträgen zu diesem Thema und bei vielen Gesprächen, die ich auf den Eschborner Fachtagen geführt habe, wurde der Eindruck formuliert, dass die Stereotypen medial stärker sind als in Wirklichkeit. Und dass es ein großes Bedürfnis nach Generationenaustausch gibt, von Seiten der Jungen auch deshalb, weil sie Erklärungen für bestimmte Ereignisse brauchen oder einfach erfahren wollen, was einmal war, das es jetzt nicht mehr gibt. Ich kann mich gut an einen Dialog erinnern, in dem wir uns ausgemalt haben, wieviel Wissen allein dadurch verloren geht, dass unsere technisierte Welt bestimmte Fertigkeiten und Handwerke nicht mehr braucht, weshalb sich niemand mehr das entsprechende Können aneignet und es allmählich ausstirbt. Möglich ist jedoch zumindest das Aufzeichnen und Festhalten von Ereignissen der Vergangenheit, wie es im Projekt Spurensicherung geschieht, solange es noch Zeugen gibt, die aus diesen Zeiten berichten können.

Sie sollten übrigens aus dem, was ich bisher über den Dialog gesagt habe, nicht schließen, dass es dabei immer harmonisch zugeht. Durch die Methode geschieht auch eine Öffnung für konflikthafte Themen. Der Dialog verlangt dann das Hinterfragen sowohl der Gedanken, als auch der zum Konflikt führenden Gefühle. Es gibt einige Voraussetzungen, um einen Dialog überhaupt führen zu können. Menschen, die keinen Respekt, keine Offenheit oder Vertrauen kennen, oder solche, für die Kommunikation in erster Linie Wettkampf und nicht Verständigung ist, müssen die für den Dialog wichtigen Haltungen erst einmal erleben und erlernen. Dafür gibt es eine Reihe von speziellen Ansätzen. Kommt es dann zum Dialog, kann der natürlich nicht Strukturen ändern. Dafür sind weitergehende Prozesse nötig.

Möglicherweise bieten aber Generationendialoge, in denen bestimmte Haltungen und kommunikative Kompetenzen entwickelt werden, eine Möglichkeit, in sachlicher und konstruktiver Weise über die Herausforderungen zu sprechen, die die demographische Entwicklung nicht nur den industrialisierten Ländern bringt. Das Aushandeln der neuen Generationenverträge, auch derjenigen zwischen Großeltern und Enkeln in den Ländern südlich der Sahara, wo die Generation der Eltern an HIV-AIDS stirbt, kann nur von den Generationen gemeinsam unternommen werden.

Wir sehen einen ersten Erfolg unserer Generationendialoge darin, dass bereits jetzt neue Dialogvorhaben aus der Gruppe heraus entstehen.